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Leseprobe zum Buch "Silberfäden im Haar"

Informationen
Titel:Silberfäden im Haar
Details zu "Silberfäden im Haar"
Leseprobe:

Silberfäden im Haar

Gerda Hillebrand

 

Als kleines Mädchen waren für mich Süßigkeiten in jeglicher Form eine der erstrebenswertesten Köstlichkeiten, da ich sie nur ganz bescheiden zu besonderen Anlässen erhielt. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, bei der ich mir diese Leckereien selbst zum Geschenk machte:

Sonntag früh ging ich wie gewöhnlich zur Kirche. Die Schwestern der Klosterschule, die ich besuchte, waren strikt darauf bedacht, dass wir Zöglinge dem Herrn durch den Besuch der Messe huldigten.

Bevor ich das Gotteshaus betrat, hatte ich immer noch ein wenig Gelegenheit, mit Schulfreundinnen vor dem Tor zu schwätzen.

An einem dieser Kirchtage unterhielt ich mich mit zwei Mädchen, die ihre mitgebrachten Bonbons austauschten und sofort der direkten Verwertung zuführten.

Da ich nicht mit diesem köstlichen Zuckerwerk ausgestattet war, kam ich weder in den Genuss des Tausches, noch in den des Verzehrs. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als die Mädchen gegenseitig den Geschmack des jeweiligen Stückes kommentierten und sich mit genießerischen Äußerungen überschlugen.

Natürlich hätte ich allzu gerne ein ganz kleines Stückchen davon abbekommen, doch waren die Verhaltensregeln klar abgesteckt. Bitten um ein Koststück war in jener Zeit schwer verpönt und hätte auch nichts genützt. Außerdem war ich als Nichteinbringer dieser Begehrlichkeiten eine Außenseiterin, der allein die Rolle des passiven Zuschauers beim Verzehr zugedacht blieb.

Ich kann nicht sagen, dass ich dadurch besonders litt, enttäuscht oder gekränkt gewesen wäre. Dieses aus heutiger Sicht unkameradschaftliche Verhalten der beiden Anderen war eine Selbstverständlichkeit für mich und regte nicht nur meine Geschmacksdrüsen in Form von vermehrter Speicheltätigkeit an, auch meine fantasievolle Einbildungskraft ließ mich an dem Zuckerwerk virtuell mitnaschen.

Ebenso wie beide Mädchen bemerkte ich das Erdbeeraroma der roten, den Duft nach Zitronen der gelben, und die angenehm süße und füllige Konsistenz der braunen Schokodragees, wenn sie auf der Zunge zergingen.

Beinahe zufrieden betrat ich die Kirche, machte das Kreuzzeichen, wie es sich geziemte, indem ich mit Weihwasser meine Finger benetzte, quetschte mich in eine volle Bankreihe und kam neben einer, für meine damaligen Begriffe, „alten“ Frau zum Sitzen. Silberfäden durchzogen ihre Haarpracht, wodurch sie mir wie eine gute Fee aus einigen meiner Lieblingsmärchen erschien. Sonnenstrahlen, die sich durch die farbenprächtigen Kirchenfenster stahlen, berührten die Silberfäden, die dadurch wie kostbares Geschmeide erglänzten. Neugierig, und voller Hochachtung betrachtete ich sie verstohlen von der Seite, um ja nicht ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Doch diese Gläubige war so in ihre Anbetung vertieft, dass sie meine Blicke nicht wahrnahm.

Dieses buntschimmernde, sich immerzu farblich verändernde Gefunkel im Haar, hatte es mir angetan. Meine Vorstellungskraft begann von Neuem von mir Besitz zu ergreifen. Gefangen in meiner Fantasie entnahm ich der Frau gedanklich eine Silberfaser ihres Haares, besah sie genau, drehte und wendete sie. Wie kostbare Seide fühlte es sich zunächst an. Unerwartet verwandelte sich das glitzernde Juwel in ein großes, rotes Bonbon. Rasch steckte ich es in den Mund, schloss verzückt die Augen und schmeckte sofort das wunderbare Aroma frischer Himbeeren, das mir im Munde schmolz. Ein vollständiges „Vater unser“ lang durfte ich mich daran ergötzen. Kaum war der letzte Geschmacksrest verpufft, fasste ich wieder in das Haar der Dame und nahm gleich drei der silbernen Fäden. Schokolade-, Zitrone- und Vanillearoma durfte ich diesmal verkosten. So viele Gaben auf einmal zu erhalten, war ich nicht gewöhnt. Die Zeiten in den späten Fünfzigern erlaubten meiner Familie keine kostspieligen Verlockungen dieser Art für uns Kindern.

Vor Freude schlug das Herz bis zum Hals, obwohl ich auch mit einem klitzekleinen schlechten Gewissen zu kämpfen hatte, weil ich das Haar der Fremden so zweckentfremdete. Außerdem war das Gotteshaus für die Andacht bestimmt, was uns durch die Nonnen doch stets eingebläut wurde.

Einige Male noch vergriff ich mich geistig im Haar meiner Sitznachbarin, ehe der Priester die Messe durch seinen Segen für beendet erklärte. Jetzt war ich maßlos in meiner Unersättlichkeit. Die gute Fee hatte mich mittlerweile mit einem Säckchen voll Zuckerwerk beschenkt, ohne dass ihrer Haarpracht ein Leid geschehen wäre.

An diesem Tag hatte ich den Süßigkeitsvorrat eines halben Jahres konsumiert. Zu kurz kam wohl unser Herrgott, dem ich vor lauter Naschen kein einziges Gebet oder Lied widmen konnte, was mir doch einige Gewissensbisse bescherte. Ob er mir deswegen gram war? Vielleicht hatte er sogar seine Hände mit im Spiel, wer weiß?

Viel Zeit ist seit damals verstrichen. In eindringlicher Nachdenklichkeit betrachte ich mich im Spiegel. Silberfäden durchziehen mein volles, langes Haar. Ähnlichkeit mit der betenden Frau von damals lässt sich kaum leugnen.

Bevor ich den Färbetermin beim Friseur wahrnehme, sollte ich wieder einmal einen Kirchenbesuch tätigen.

Doch welchem Kind in unseren Breiten könnte ich heutzutage mit meinen Silberfäden im Haar wohl Freude bereiten?